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Mutter-Kind-Bindung: Wie sie funktioniert und was passiert, wenn sie gestört ist


Vor Kurzem stieß ich eher durch Zufall auf einen Podcast mit Dr. Gabor Maté. Er handelte von früher Bindung in der Kindheit. Gleichzeitig zeigte der kanadische Mediziner auch, welche massiven individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen eine gestörte Bindung bei kleinen Kindern hat. Das Thema ist so spannend und wichtig, dass ich mich näher damit beschäftigt habe. Komm mit auf meine Reise durch die frühkindliche Eltern- bzw. Mutter-Kind-Bindung und ihre Bedeutung. 

Grundlage der menschlichen Beziehungen 

Die sogenannte Bindungstheorie geht auf die Psychoanalytiker John Bowly und James Robertson sowie die Psychologin Mary Ainsworth zurück. Sie besagt, dass ein Säugling eine enge Beziehung zu einer Person aufbaut. Das ist normalerweise ein Elternteil, kann aber durchaus auch ein anderer Mensch sein. Diese Person bietet dem Baby Schutz und emotionale Nähe. Das Kind hat zu seiner Bezugsperson in den ersten Lebensmonaten und –jahren den engsten Kontakt. Da dies früher meist die Mutter war, spricht man hier auch von der Mutter-Kind-Bindung. 

Wenn das Baby Unsicherheit und Gefahren erlebt, wird es die Nähe seiner Bezugsperson einfordern oder in späteren Jahren selbstständig aufsuchen. Für das Überleben eines Menschen scheint die Bezugsperson die gleiche Bedeutung zu haben, wie Nahrung. Sie beschützt das Kind und hilft in Situationen, in denen das Baby seine Emotionen selbst noch nicht regulieren kann.  

Sogar im Hormonhaushalt spiegelt sich eine gute Beziehung zur Bindungsperson wider. Geraten Kleinkinder in Stresssituationen ist die Ausschüttung von Cortisol wesentlich geringer, wenn die Bezugsperson anwesend ist. Cortisol ist ein Stresshormon, dass sich unter anderem auf das Immunsystem und den Stoffwechsel auswirkt.  

Eine sichere „Mutter-Kind-Bindung“ ist für die sozial-emotionale und kognitive Entwicklung wichtig. Sie stellt einen Schutzfaktor dar, hilft dabei, schwierige Situationen zu meistern und verhindert psychische Krisen. Wie Du die Bindung zu Deinem Baby stärkst, erklärt Hebamme Silke in einem sehr schönen Beitrag.  

Funktionsweise des Bindungsverhaltenssystems 

Fühlt sich ein Kind bedroht, dann startet sein Bindungsverhaltenssystem. Es sucht Kontakt zur Bezugsperson. Je stärker das Kind die Bedrohung empfindet, umso mehr Unterstützung sucht es sich normalerweise. Die Bindungsperson muss dann entsprechend auf das Verhalten des Babys reagieren, dann stoppt der Bindungsverhaltensprozess wieder.  

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Beispiele: 

  1. Dein Kind fällt hin und verletzt sich. Es schreit laut los. Du läufst hin und nimmst Dein Baby auf den Arm, wiegst es, sprichst mit ihm, so lange, bis es sich wieder beruhigt. Du reagierst entsprechend stark auf die Situation. 
  1. Dein Kind hat ein neues Spielzeug, das ein merkwürdiges Geräusch macht. Das Baby ist verunsichert und schaut Dich an. Du blickst zurück und nickst leicht. Auch hier reagierst Du wieder der Situation entsprechend. Das hilfesuchende Verhalten des Kindes wird erwidert.  

Wenn das Kind in einer Notlage ist, aktiviert sich automatisch das Bindungsverhaltenssystem. Dieses reagiert bis zum 3. Lebensjahr besonders sensibel und kann bereits durch geringe Auslöser gestartet werden. In diesem Fall muss die Bezugsperson ein bestimmtes Verhalten zeigen, damit das Notfallprogramm des Kindes aufhört. Erst ab dem 3. Lebensjahr können auch andere Personen erfolgreich unterstützen und die Anwesenheit der direkten Bezugsperson ist nicht mehr notwendig.  

Gerade in Bezug auf den starken Anstieg von frühkindlicher Betreuung finde ich diese Forschungsergebnisse interessant. Aber hier findet möglicherweise einfach ein Switch der Bezugspersonen statt. Die Kinder wählen nicht zwangsweise ihre Mutter oder Eltern als Hauptbezugspersonen.  

Bindung zu Eltern ist nicht von Natur aus vorgesehen  

<span class="su-quote-cite">Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.</span>

Das afrikanische Sprichwort wird immer wieder in Zusammenhang mit Erziehung gebracht. Tatsächlich ist es in vielen Ländern Afrikas oder auch Asiens so, dass Erwachsenen die Bezeichnungen von Familienangehörigen gegeben werden. Ein fremder Besucher wird als Onkel oder Tante betitelt, eine gleichaltrige Person gerne als Bruder oder Schwester. Laut Dr. Maté liegt das daran, dass die Kinder dort eine enge Beziehung zu verschiedenen Erwachsenen im Dorf aufbauen durften. Sie sehen ausgewachsene Menschen als Bezugs- und Vertrauenspersonen. Gerade in Ländern mit vielen Gefahren ist es hilfreich, wenn das Kind verschiedenen Dorfmitgliedern vertraut. Sollte den Eltern etwas passieren, hat der Nachwuchs trotzdem Menschen, die es kennt und mit denen es sich verbunden fühlt.  

Von Natur aus ist es vorgesehen, dass wir uns Bezugspersonen suchen. Bereits ein Neugeborenes versucht, Blickkontakt aufzubauen und schreit nach Unterstützung. Allerdings gibt es kein universelles Gesetz, nachdem Mama oder Papa die Bindungspersonen sein müssen. Es müssen nicht einmal erwachsene Personen sein. Diese Programmierung hat die Natur vermutlich nicht vorgesehen, weil sie davon ausgeht, dass die Gesellschaft automatisch für die richtige Bindungsumgebung sorgt. Und wirklich war es im Laufe der Menschheit zu Friedenszeiten meisten so, dass die Kinder hauptsächlich von Erwachsenen umgeben waren, an denen sie sich orientieren konnten.   

In modernen Gesellschaften ist das anders. Heute sind Kinder – bereits ab jüngsten Jahren – vor allem von Kindern umgeben. Dr. Maté geht davon aus, dass sich die Kleinen deshalb heutzutage häufiger an Freunde binden als an Erwachsene.  

Vermehrt Bindung zu Gleichaltrigen 

Im Gegensatz zu Dr. Maté sieht Judith Rich Harris es so, dass wir uns neben unseren Eltern immer auch an Gleichaltrige binden. Sie führt in ihrem Buch “The Nurture Assumpiton” unter anderem an, dass Auswandererkinder nach und nach die Kultur der neuen Umgebung durch den Kontakt mit Gleichaltrigen aufnehmen. Der Umgang mit anderen Kindern wird das Verhalten und den Charakter beeinflussen. Rich Harris sieht es als positiv und völlig normal an, dass Kinder enge Bindungen untereinander haben. Dr. Maté ist anderer Meinung.  

Beide Forscher stimmen zwar überein, dass Kinder auch von anderen Kids lernen, allerdings ziehen sie unterschiedliche Schlüsse. Dr. Maté spricht davon, dass Eltern oftmals Probleme mit dem Verhalten ihrer Kinder haben, wenn diese nicht zu ihnen, sondern zu Gleichaltrigen gebunden sind. Vielleicht kennst Du noch die “stille Treppe” der Super-Nanny aus dem Fernsehen? Sie wird benutzt, um das angebliche Fehlverhalten von Kindern zu ändern.  

Maté geht davon aus, dass Methoden wie die stille Treppe nicht funktionieren, weil sie das Problem nicht bei der Wurzel packen. Die Wurzel ist oftmals die fehlende „Mutter-Kind-Bindung“ bzw. Eltern-Kind-Bindung.  

Es gibt 4 Dynamiken von Beziehung: 

1. Beziehung durch Sinne 

Jeder Mensch, der eng an eine andere Person gebunden ist, will möglichst viel Zeit mit demjenigen verbringen. Er will gemocht, gesehen, gehört und berührt werden. Gerade Verliebte kennen diese Symptomatik. Sie verändern sogar ihr Verhalten derart, wie sie vermutlich am meisten gemocht werden. Im Grunde gehen Kinder ähnlich vor. Sie werden versuchen, den Bezugspersonen zu gefallen und sie zu erfreuen, damit diese möglichst viel Kontakt mit ihnen haben wollen. Sind Kinder an Gleichaltrige gebunden, werden sie sich direkt nach der Heimkehr aus Kindergarten oder Schule wieder mit Freunden treffen oder austauschen wollen. Die Eltern dagegen sind ihnen vergleichsweise fremd. Sie verhalten sich nicht absichtlich abweisend oder kalt ihren Erziehungsberechtigten gegenüber. Lediglich der Instinkt treibt sie zu den Bezugspersonen, weil diese ihnen vermeintlichen Schutz liefern.  

2. Beziehung durch Identifikation 

Je unreifer der Mensch ist, desto stärker äußert sich die Beziehung durch Identifikation. Kinder verhalten sich dann ähnlich wie die Bezugsperson. Sie versuchen sie im Aussehen und der ganzen Art zu kopieren. Ein gutes Beispiel sind Kinder, die Stöckelschuhe und Make-up wie die Mama tragen. Oder aber auch Jugendliche, die sich beinahe uniformieren, gleiche Musik hören und eine ähnliche Sprache haben.  

Maté weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, wie die sprachliche Entwicklung immer schlechter wird. Denn die Kinder kommunizieren nicht mehr hauptsächlich mit Erwachsenen, sondern mit anderen Kindern. Der Beitrag “Die deutsche Sprache” aus der Zeit deutet etwas Ähnliches an. Wir würden unsere Sprache extrem vereinfachen und den korrekten Satzbau in den Wind schießen. Dies sind Vorgehensweisen, die der kindlichen Sprache ähnlich sind.  

3. Beziehung durch Zugehörigkeit und Loyalität 

Wenn wir uns mit jemandem verbunden fühlen, sind wir ihm gegenüber normalerweise loyal. Wir wünschen uns, zu ihm oder seiner Gruppe zu gehören. Das gilt für Kinder genauso wie für Erwachsene. Problematisch wird es laut Maté allerdings, wenn die Gleichaltrigen die engsten Vertrauenspersonen des Kleinkindes sind. Dann ist es diesen Menschen gegenüber nämlich loyal und nicht den Eltern.  

4. Beziehung durch Bedeutung /Signifikanz 

Der Mensch möchte für die Personen, zu denen er sich zugehörig fühlt, wichtig sein. Maté denkt, dass Kinder sich komplett unterschiedlich verhalten, abhängig davon, ob sie für die Gleichaltrigen oder ihre eignen Eltern bedeutsam sein wollen. Seiner Ansicht nach gewinnen Kinder unter Gleichaltrigen an Einfluss und Bedeutung, wenn sie sich beispielsweise wie kleine Tyrannen verhalten.  

Bindung kreiert natürliche Hierarchie 

In der Natur ist es völlig normal, dass der Stärkere, Erfahrenere und Weisere in der Hierarchie höher steht. Diese Person trägt die Verantwortung, bekommt aber auch das Privileg den Weg vorzugeben. In Bezug auf die Kindererziehung meint Maté, dass Eltern in Familien mit positiver „Mutter-Kind-Bindung“ bzw. Eltern-Kind-Bindung die wichtigen Entscheidungen treffen, nicht der Nachwuchs.  

Daran sei nichts falsch, das ist der natürliche Weg. Bei einer gestörten Eltern-/ Mutter-Kind-Bindung übernehmen die Erziehungsberechtigten zwar trotzdem die komplette Verantwortung, allerdings akzeptieren die Kinder den Weg der Eltern nicht, wenn dieser mit den Hauptbezugspersonen konkurriert. Der Mensch kann sich zwar an mehrere Personen binden, wird allerdings im Zweifelsfall immer den Hauptbezugspersonen folgen. Dass dies zu Konflikten in der Eltern-Kind-Beziehung führen kann, ist logisch. Die Kinder reagieren instinktiv und nicht aus bösem Willen gegen die Eltern.  

Eltern bekommen bei “ungezogenen” Kindern auch heute noch häufig den Rat, dass sie härter durchgreifen sollen. Das bringt aber überhaupt nichts, weil nicht das Verhalten der Kinder falsch ist, sondern die Eltern-Kind-Bindung nicht stimmt. Je strenger die Eltern reagieren, desto größer wird der Widerstand der Kinder ausfallen. Laut Dr. Maté ist die einzige Lösung, die Eltern-/ Mutter-Kind-Bindung wiederherzustellen.  

Folgen falscher Bindungsverhältnisse 

Sind Kinder an Gleichaltrige gebunden, dann fehlt der sichere Hafen. Kinder untereinander können grausam sein. Normalerweise bilden hier die Eltern beziehungsweise anderen erwachsenen Bezugspersonen eine Art Schutzschild. Die Kinder können sich bei Erwachsenen aussprechen und Rat holen. Fällt diese Möglichkeit weg, weil der Nachwuchs nicht an die Eltern gebunden ist, wird ein emotionaler Schutzschild hochgefahren. Die Kinder schalten ihre Gefühle aus. Sie werden stumpf, um sich vor den Verletzungen der Gleichaltrigen zu schützen. Daraus resultieren verschiedene Probleme.  

Kinder, die die Bindung zu ihren Gefühlen verlieren, unternehmen im späteren Leben viele Dinge, um sich wieder zu spüren. Sie nehmen Drogen, praktizieren Sport auf extreme Weise oder spielen massiv gewalttätige Computerspiele. Auch das Ritzen dient dazu, dass sich Menschen wieder fühlen.  
Eine weitere These, die Dr. Maté hervorbringt ist, dass Kinder sich nur weiterentwickeln können, wenn sie eine gewisse Verletzlichkeit besitzen. Dadurch, dass aber kein Zugang zu den Gefühlen besteht, ist auch die Verletzlichkeit nicht gegeben. Die Kinder mit einer gestörten Eltern-Kind-Bindung bleiben unreif.  

Meine persönliche Meinung zur Arbeit von Dr. Maté 

Ich finde den Ansatz spannend und auch nachvollziehbar. Allerdings stimme ich ihm auch nicht in allen Punkten zu. Ich bin zum Beispiel ein Freund davon, dass Eltern und Kinder viele Entscheidungen gemeinsam treffen. Zudem glaube ich, dass es ab einem bestimmten Alter auch sehr wichtig ist, dass sich die Kinder andere Bezugspersonen als die Eltern suchen. Das ist in meinen Augen auch ein ganz normaler und wichtiger Prozess. Dennoch kann ich mir gut vorstellen, dass es für die Kleinen überhaupt nicht zuträglich ist, wenn sie zu früh von den Eltern entfernt werden und zu viel Zeit hauptsächlich unter Gleichaltrigen verbringen.  

Wie ist Deine Meinung oder Erfahrung zum Thema Mutter-Kind-Bindung? Wir freuen uns über Deinen Kommentar.

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