verzogenes Einzelkind Vorurteile

Das verzogene Einzelkind: Was ist dran an den Vorurteilen?


Einzelkindern eilt ein nicht unbedingt positiver Ruf voraus. Aber stimmt das Vorurteil vom verzogenen Einzelkind wirklich? Ist ein Einzelkind weniger sozial und weiß nicht, wie es mit anderen Kindern richtig umgeht? In diesem Artikel gehe ich der gängigen Meinung auf den Grund. Du wirst überrascht sein!

Stimmen die Vorurteile gegenüber Einzelkindern?

Für viele scheint es logisch: Einzelkinder sind verwöhnt und egoistisch. Denn sie genießen Mamas und Papas volle Aufmerksamkeit und mussten nie etwas mit Geschwistern teilen. Und sind folglich nicht in der Lage, mit anderen Kindern zu teilen. Aber so einfach ist es mit dieser Annahme dann doch nicht: Einige Forscher haben in Studien nämlich herausgefunden: Einzelkinder verhalten sich oftmals nicht anders als Kinder aus Familien mit vielen Geschwisterkindern. Mehr sogar: Sie zeigen in puncto Sozialverhalten manchmal positivere Eigenschaften als Gleichaltrige mit Geschwistern.

Studie belegt: Einzelkinder haben kein schlechteres Sozialverhalten

Das vorherrschende Bild der ach so verwöhnten Egoisten wurde erstmals von der amerikanischen Sozialpsychologin Toni Falbo überprüft. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichte sie 1984 in dem Buch „The Single Child Family“. Die Forscherin konnte dabei keine gravierenden Unterschiede zwischen Einzelkindern und Kindern mit Schwestern oder Brüdern feststellen. Im Gegenteil sogar. In den Bereichen Selbstbewusstsein und akademische Leistung hätten Einzelkinder sogar einen leichten Vorteil. Und auch die Bereiche Geselligkeit oder Aggressivität würden bei Einzelkindern nicht negativ auffallen. Das Aufwachsen ohne andere Kinder im Haushalt habe bei älteren Jugendlichen den Effekt, dass sie eher zu intellektuellen und musischen Beschäftigungen neigen. Während Jugendliche mit Geschwistern mehr Interesse an gruppenbezogenen Aktivitäten, so etwa Mannschaftssport, haben. Das Gesamtergebnis von Falbos Studie ist aber eindeutig: Einzelkinder unterscheiden sich grundsätzlich nicht von Kindern mit Geschwistern.

Weitere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen

Weitere Studien, die später durchgeführt wurden, sahen Einzelkinder sogar im Vorteil im Vergleich zu Geschwisterkindern. Die Soziologin Judith Blake nahm 1989 die Daten von 150.000 Kindern und Erwachsenen unter die Lupe. Dies ist eine der größten Untersuchungen, die es in diesem Bereich gibt. Die Studie liefert viele Ergebnisse, jedoch nicht eines, das Einzelkinder schlechter dastehen lässt als Geschwisterkinder. Judith Blake fand heraus, dass Einzelkinder in der Zukunft häufiger Führungspositionen einnehmen. Zudem hat ein Einzelkind oftmals eine bessere Schul- und Berufsausbildung, bei Intelligenztests schneidet es besser ab, kann sich sprachlich besser ausdrücken und ist sogar sozial aktiver als ein Kind mit Geschwistern.

Die erste deutsche Studie auf diesem Gebiet leitete der Aachener Psychotherapeut Thomas von Kürthy. Er stellte 1989 fest, dass Kinder ohne Geschwister zu sozialeren, optimistischeren und leistungsbewussteren Erwachsenen werden als Kinder mit Geschwistern.

Einzelkinder sind oft stärker an die Mutter gebunden

Worauf können diese positiven Studien-Ergebnisse zurückzuführen sein? Trotz des schlechten Rufes der Einzelkinder? Sie entwickeln sich eventuell deswegen positiv, weil die Bedingungen, unter denen sie aufwachsen, oftmals sehr gut sind. Der Psychologe Hartmut Kasten ist sich sicher, dass es kein großes Ausmaß auf die Ausbildung spezieller Persönlichkeitsmerkmale hat, ob ein Kind mit oder ohne Geschwister aufwächst. Viel bedeutender sei die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung allgemein.

 

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Kasten nimmt in seinem Buch „Einzelkinder und ihre Familien“ Bezug auf eine amerikanische Studie. Diese belegt, dass Mütter von Einzelkindern in den ersten Lebensmonaten mehr Körper- und Kommunikationskontakte mit ihrem Kind haben. Diese Berührungen, das Wiegen, Schaukeln, Liebkosen und das Füttern, ohne dabei gestört zu werden, sei für die Entwicklung des Kindes förderlich und stärke die Bindung. Ist das Kind dann bereits zwei Jahre alt, bekommt es als Einzelkind mehr Rückmeldungen von seinen Eltern auf das, was es sagt und tut. Auch dies sei für die Entwicklung des Kindes förderlich.

Nachteile am Einzelkind-Dasein

Obwohl die Studien zeigen, dass sich der schlechte Ruf des Einzelkinds nicht wissenschaftlich belegen lässt: Im alltäglichen Leben haben es Einzelkinder auch manchmal schwerer:

  • Einer der nachteiligen Aspekte ist natürlich das Fehlen eines geschwisterlichen Mitstreiters. Gemeinsam mit dem Bruder oder der Schwester kann es sich gegen die Eltern verbünden, auch mal gemeinsam Dampf ablassen und ist nicht immer allein gegen zwei.
  • Dieses Alleinsein ist auch ein Nachteil, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen. Ein Einzelkind hat ein eigenes Zimmer und ist für Unordnung oder Chaos selbst verantwortlich.
  • Auch beim Thema Spielen ist es als Einzelkind schwierig, sich immer mit Mama und Papa als Spielkamerad zu begnügen. Denn auch sie haben nicht immer Zeit und Lust dazu. Die daraus resultierende kindliche Langeweile kann für Eltern und Kind zur Belastungsprobe werden.
  • Kleinere Kinder gucken sich Vieles bei ihren älteren Geschwistern ab. Seien es Hausaufgaben, die Handhabung von Spielzeugen oder Alltägliches, wie das Schnüren der Schuhe. Mit älteren Geschwistern lernen kleinere Kinder viele Alltagsdinge schneller.
  • Im Umkehrschluss lernen die älteren Geschwister, Verantwortung zu übernehmen und die Jüngeren zu unterstützen.

Eltern prägen stärker als Geschwister

Auf der anderen Seite: Für Eltern ist es mit nur einem Kind leichter, Beruf und Familie zu vereinbaren. Denn schon bei zwei Kindern steigt der organisatorische Aufwand deutlich an. Die Aufgabenteilung innerhalb einer Partner-/Elternschaft ist bei einem einzigen Kind weniger konventionell. Bei Eltern von Einzelkindern können häufiger beide Partner berufstätig sein. Wenn das Umfeld von Bildung und Wohlstand bestimmt ist, kann sich dies positiv auf die Entwicklung des Einzelkinds auswirken. Denn Faktoren wie das Bildungsniveau, der finanzielle Status der Familie, die Werte und der Erziehungsstil der Eltern seien für die Zukunft des Kindes sehr viel prägender als die Familiengröße, so Soziologen und Experten.

Wie nehmen Einzelkinder sich selbst wahr?

Als Einzelkind weiß man aber selbst wohl noch nicht, dass einem eventuell etwas fehlen könnte. Ebenso wie Geschwister ihre Situation wohl einfach annehmen und zumindest im Kindesalter nicht hinterfragen. Werden sie älter, blicken sie auf ihre Kindheit meist differenzierter zurück, wie die amerikanischen Professorinnen Lisen Roberts von der Western Carolina University und Priscilla Blanton White von der University of Tennessee 2001 herausfanden. Die beiden Frauen befragten Einzelkinder im Alter zwischen 20 und 29 Jahren nach Pro und Contra der Geschwisterlosigkeit.

  • Negativ nannten die Befragten oft das Fehlen von vertrauten Gefährten. Ebenfalls empfanden sie die fehlende Souveränität im Umgang mit Gleichaltrigen, das Verlangen, Beachtung bei Anderen zu finden sowie eine gewisse Sorge um die spätere Pflege der Eltern als negativ.
  • Positiv nannten die Befragten, sehr viel Zeit für sich allein gehabt zu haben, keine Rivalitäten mit Geschwistern austragen zu müssen, die elterliche Zuwendung ganz allein genießen zu dürfen und eine intensive Beziehung zu ihnen aufbauen zu können.

Fazit: Nicht die Existenz von Geschwistern, sondern Lebensumstände und Erziehungsstil bewirken, ob ein Kind „verzogen“ ist

Eltern von Einzelkindern sollten sich keine Sorgen machen: Ihre Kinder wachsen genauso gut (oder schlecht) auf wie es Kinder mit Geschwistern tun. Oder sogar besser. Denn entscheidend ist nicht, wie viele Kinder in einem Haushalt sind, sondern unter welchen Bedingungen diese aufwachsen. Mit elterlicher Fürsorge und Unterstützung, Kontakt zu anderen Kindern in der Freizeit und mit einem stabilen Umfeld. Der schlechte Ruf von Einzelkindern kann durch viele Studien nicht bestätigt werden. Und das negative Vorurteil vom verzogenen Einzelkind ist eben nur — ein Vorurteil.

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